Die fantastische Reise beginnt an der Universität Bern. Draußen sitzen Studenten, vor dem Hauptgebäude laufen Professorinnen und Doktoranden durch die milde Oktoberluft. Über der Schweiz scheint die Sonne – groß und gelb, als gäbe es nur diesen einen Stern da oben im Weltraum.
Am Physikalischen Institut führt eine Glastür zur Abteilung für Weltraumforschung und Planetologie: Willkommen im Center for Space and Habitability.
Im Foyer hängen Plakate, auf denen Raketen und Ufos fliegen. Satelliten schwirren um lilafarbene Monde, Männchen mit Antennenköpfen stapfen über Kraterwelten. Die auf den Plakaten gestellten Fragen aber sind überaus ernst gemeint. Gibt es eine zweite Erde? Existieren da draußen Planeten, die nicht nur aus Gasen und Schlamm bestehen, sondern womöglich eine Atmosphäre besitzen?
Ausgerechnet in der Schweiz geht man diesen Fragen mit wissenschaftlicher Präzision nach. Dabei denken die meisten noch immer an Käse, Kühe und teure Uhren, wenn es um das kleine Bergland geht.
Weit gefehlt! Schon in den 1960er-Jahren leistete die Universität Bern ihren Beitrag zu den Mondlandungen. Hier am Physikalischen Institut wurden die Sonnenwindsegel für die Apollo-Missionen entwickelt. Zahlreiche Berner Instrumente und Messgeräte kreisen in einem Orbit oder sausen mit Raumsonden durchs Sonnensystem. Bereits 1995 haben zwei Schweizer zudem den ersten Exoplaneten lokalisiert – die Entdeckung von 51 Pegasi b gilt als Meilenstein der Astronomie.
Berner Massenspektrometer flogen schon zu fernen Kometen, um deren Atmosphäre zu analysieren. Andere Messgeräte aus den Schweizer Laboren fliegen zum Jupiter und zur Sonne. Wirft man einen Blick auf die Liste der Weltraummissionen, an denen die Schweiz beteiligt ist, hebt man fast schon selbst ab.
Es geht um Reisen zum Mars und zur Venus, um die Analyse von Weltraumplasma. Dann wieder stoßen Sonden bis zu den Eismonden des Jupiters vor – an Bord Berner Präzisionsinstrumente. Sie sollen untersuchen, ob sich in den tiefer liegenden Ozeanen der drei Monde Ganymed, Kallisto und Europa Spuren von Leben finden lassen.
Es geht um die ganz großen Fragen. Wie ist das Universum entstanden? Wie das Leben auf die Erde gekommen? Eine faszinierende Reise. Zweifelsohne die kühnste, auf die wir Erdlinge uns jemals eingelassen haben.
Derzeit wird an der Mission „PlanetS“ gearbeitet. Man will verstehen, aus welchen Bestandteilen sich Planeten zusammensetzen, ob ein Leben auf ihnen möglich sein könnte. Um das herauszufinden, sammeln Sonden Gesteinsproben und Daten von fernen Asteroiden, Kometen und Meteoriten. Weisen die fernen Objekte eine Biosignatur auf? Und wenn ja, welche?
Im Institut für Exakte Wissenschaften stehen an diesem Morgen Nikita Boeren und Peter Keresztes Schmidt. Die Doktoranden der Physik und Astrochemie beschäftigen sich hauptberuflich mit den Sternen. Astronomisches Basiswissen rezitieren sie wie wir die Butterpreise im Supermarkt. Und dabei folgen sie einer langen Tradition – denn niemand Geringeres als Albert Einstein hielt an der Schweizer Fakultät seine Vorträge.
Zwischen 1902 und 1909 verbrachte Einstein seine „glücklichen Berner Jahre“ in der Schweiz. Im Wunderjahr 1905 entwickelte er hier die Relativitätstheorie und stieg 1908 als Professor in den Lehrbetrieb ein. Seine erste Vorlesung begann damals morgens um sieben. Titel: „Molekulare Theorie der Wärme“. Anfangs saßen drei Studenten im Saal, bald folgte nur noch einer dem Genie. Einstein war noch kein Popstar der Physik. Eher ein Sonderling, der komische Kreise an die Tafel malte.
Heute bringt ein Fahrstuhl die Astronomen in den ersten Stock. „Willkommen in unserem Büro“, sagt Peter Keresztes Schmidt. Auf den Tischen liegen feine Fräsen, Zangen, Pinzetten. Hinter Vorhängen öffnet sich ein Reinraum mit einem silbernen Aggregat, gegenüber steht eine mikrobiologische Sicherheitswerkbank. In dem Schweizer Weltraumlabor werden Messinstrumente für zukünftige Raumflüge gebaut.
Goldbeschichtete Massenspektrometer sollen mit einer NASA-Mission zum Mond fliegen. Dort gelandet, pulverisiert ein Laserstrahl das Gestein, woraufhin die ionisierten Fragmente im Spektrometer nach ihrer atomaren Masse separiert werden. Die Forscher wollen die chemische Zusammensetzung des Gesteins ermitteln. Keresztes Schmidt erklärt: „Dank dieser Methode können wir vor Ort bestimmen, welche Elemente es auf dem Mond gibt. Aluminium, Eisen, vielleicht andere Substanzen. Das ist wichtig, falls wir eine Präsenz auf dem Mond aufbauen wollen.“
Eine Präsenz?
„Ja, eine Raumstation zum Beispiel, von der aus wir weiter zum Mars reisen könnten.“
Nach dem Mittagessen stößt Martin Rubin dazu. Der Planetologe und Kometenforscher arbeitete schon bei der Rosetta-Mission der ESA mit. Schweizer Massenspektrometer und Drucksensoren näherten sich dem Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko. Die Präzisionssensoriken an Bord der Sonde sollten entweichende Gase und Eispartikel analysieren, um so dem Rätsel der Planetenentstehung auf die Schliche zu kommen.
Rubin sagt: „Der Komet ist 4,5 Milliarden Jahre alt, seine Wasserstoff- und Heliummoleküle allerdings stammen noch vom Urknall, der sich vor 13,8 Milliarden Jahren ereignete. Kometen sind Zeugen der Entstehungsgeschichte unseres Sonnensystems.“
Dabei stellt sich die Frage aller Fragen. Was war vor dem Urknall? Martin Rubin trägt Turnschuhe, blaues Sweatshirt. Er sagt: „Das wissen wir nicht. Und wir können es uns auch nicht vorstellen. Es gab vorher keinen Raum, folglich auch keine Zeit. Vor dem Urknall herrschte sozusagen das Gegenteil der Unendlichkeit.“
In seinem Labor fertigt Rubin ebenfalls Instrumente, die mit Sonden und Satelliten ins kosmische Vakuum reisen. Überall stehen Apparaturen, ummantelte Zylinder. Ein Wust aus Technik, bei dem selbst Daniel Düsentrieb Bauklötze staunen würde. Rubin zeigt auf eines der Geräte. „Dieses Flugzeitmassenspektrometer soll 2029 zu einem Kometen fliegen, um weitere Fragen zu beantworten.“
Die Schweiz blickt aber noch viel tiefer ins Universum: bis zum Anbeginn von Raum und Zeit. Wer solch intergalaktische Perspektiven erhaschen will, muss nach Zermatt. Der Ort in den Alpen empfängt seine Gäste wie eine Enklave der Glückseligkeit. Unten im Dorf dampfen die Crêperien. Überall schicke Bars, schicke Boutiquen, schicke Restaurants. Hoch oben thront der Star der Region. Das Matterhorn – eine schneebedeckte Pyramide, die lotrecht in den Himmel ragt.
Von der Talstation fährt die Gornergratbahn nach oben, die zweithöchste Bergbahn Europas. Die Baumgrenze naht, Schneefelder ziehen vorbei. Bis die Bahn zum Stehen kommt: auf 3100 Meter Höhe.
Rundherum ragen Viertausender empor. Doch damit nicht genug: Obendrein steht hier oben das höchste Hotel der Schweiz.
Das Kulmhotel Gornergrat mutet an eine wie eine über den Dingen schwebende Ritterburg. Drinnen gibt es 22 nach Arvenholz duftende Zimmer, moderne Bäder, schneeweiße Bettwäsche. Unten zwei Restaurants mit moderner Kunst und edlen Menüs. Doch das Hotel ist nicht nur Hotel, sondern auch Sitz des Stellarium Gornergrat. Ein Observatorium, von dem aus man bis in die hintersten Winkel des Universums blicken kann.
Leiter der Sternwarte ist Dr. Timm Riesen, Doktor der Astrophysik, Experte für Massenspektrometrie, Galaxien und kosmische Nebel. Riesen hat für die NASA sechs Jahre auf Hawaii verbracht, war in Französisch-Guayana schon beim Start der Ariane-5-Rakete dabei.
Er geht hoch in den Nordturm des Hotels. Hier oben, unter einer großen Kuppel, steht „das Auge“. Das Teleskop. Riesen: „Mit der Deep-Sky-Kamera können wir bis zu 100 Millionen Lichtjahre tief ins Universum blicken, können Aufnahmen machen von Galaxienhaufen, Doppelsternen und entlegenen Spiralnebeln.“
Riesen schwenkt das Teleskop herum, oben öffnen sich die Pforten. Dahinter liegt ein eisiger Nachthimmel, in dem die Sterne lodern. Einige der Phänomene sind durch das Okular des Geräts zu erkennen. Die wahren Mysterien aber erscheinen auf den Bildschirmen des Computers.
Timm Riesen zeigt auf den Andromedanebel. „Unser Nachbar im All“, sagt er. „Eine Spiralgalaxie, 2,5 Millionen Lichtjahre entfernt.“ Und dann tauchen noch viel mehr Sternenformationen auf. Irrwitzige Muster und Konstellationen. Der Adlernebel, der Hantelnebel. Die Whirlpool-Galaxie. Der Virgo-Galaxienhaufen. Riesen: „54 Millionen Lichtjahre entfernt, wir sind ein Teil davon.“
Unter der Kuppel des Teleskops wird es bitterkalt. Oben leuchtet die Milchstraße. Timm Riesen erzählt noch ein bisschen. Nach letzten Erkenntnissen würde die Forschung davon ausgehen, dass allein im für uns sichtbaren Universum an die 200 Milliarden Galaxien existieren. Eine Zahl, die jedwede Vorstellung sprengt. Aber es wird noch schöner.
Auf die Frage, ob es da draußen anderes Leben gibt, sagt Riesen: „5000 Exoplaneten haben wir schon gefunden. Nach jüngsten Berechnungen muss es allein 200 bis 400 Milliarden Sterne wie die Sonne geben, um die entsprechend viele weitere Planeten rotieren. Die Aussichten sind also gut.“
Was für Aussichten?
Riesen: „Die Wahrscheinlichkeit, dass es anderes Leben gibt. Einzelliges. Mit Glück auch Mehrzeller. So wie bei uns auf der Erde.“