Am Morgen steigt die Dämmerung über das Tal von Windhoek. Oliver Braun, 59, ist früh wach. Um halb sieben fährt er seinen Wagen durch das Tor des kleinen Flughafens und parkt direkt neben seiner Maschine. Noch steht die Cessna schweigend im Gras. Ihre weißen Tragflächen, das in der Sonne glänzende Cockpit, der große Propeller.
Seit 24 Jahren fliegt Oliver Braun mit kleinen Flugzeugen über das südliche Afrika. Und dieses gute Stück – eine Cessna 210, Baujahr 1976 – gehört seit 15 Jahren ihm selbst. In großen Buchstaben steht die Kennung auf dem weißen Lack. Oscar Lima India. Ein Flieger namens Oli.
Braun geht die Checklisten vor dem Start durch. Er wird heute zwei Gäste in die Weiten der Namib-Wüste fliegen, dorthin, wo nur noch Sand und Sonne sind und Skorpione durch die Ödnis kriechen.
Um acht startet Braun den Motor. Ein kurzer Funkverkehr mit dem Tower, schon kommt die Startfreigabe. Der ehemalige Drucker gibt Schub, die Cessna prescht über die Piste, hebt ab und klettert gemütlich in den blauen Himmel. Windhoek wird schnell kleiner, die Häuser, die Parks, derweil vor dem Cockpit 2000 Meter hohe Gipfel näher kommen. Das Khomas-Hochland und die Otjihavera-Berge umgeben die Stadt wie ein Kessel.
Braun fliegt eine Kurve, dreht die Cessna nach Südwesten. Es dauert nicht lange, bis die große Freiheit in Sicht kommt: völlig unverbautes Afrika.
„Land of open spaces“ nennt sich Namibia. Land der großen Weite. Und man muss nicht lange fliegen, um das zu kapieren. Hinter dem Gamsberg beginnen die Hakos-Berge, eine braune, karge Welt, durchzogen von steinigen Plateaus und hellem Geröll. Noch sind einzelne Siedlungen zu erkennen, Straßen, die sich wie dünne Linien Richtung Horizont ziehen. Bald aber tauchen unten die Naukluft-Berge auf, weiter im Südosten der Tsondab, ein ausgetrockneter Fluss, der wie eine lange Narbe in der ockerfarbenen Weite liegt. Oben im Himmel zupft eine Thermik an der Cessna und schüttelt den Flieger kurz durch. Braun bleibt seelenruhig. Er kennt die Routen in die Wüste auswendig, die Wasserstellen, die markanten Wegpunkte, um sich zu orientieren. Fast scheint es, als würde er jedes Luftloch hier oben kennen.
Nach zwanzig Minuten Flug kommt die Große Randstufe näher. Die Schwelle zur zentralen Namib-Wüste, der Eintritt ins Niemandsland. Die Augen verlieren sich in der Weite. Wohin man blickt: blanke Erde. Rotbraune Flanken, ausgedörrte Salzflächen, von wilden Mustern durchzogene Niederungen. Dies ist seit je das Reich der Wüstenelefanten und Sandgeckos, der Stachelschweine und Schlangen.
Es ist genau das, was den Drucker aus Oberursel einst hierherlockte. Viel Natur, wenig Menschen. Das trockene Klima, die Tiere. Braun streckt den Arm über das Instrumentenbrett nach vorn, streicht mit der flachen Hand über die Weite. Durch seine dunkle Pilotenbrille schaut er kurz rüber. „Verstehst du, was ich meine?“
Namibia ist das am zweitdünnsten besiedelte Land der Erde. Nur die Mongolei ist noch leerer, noch ausufernder. Unter den Tragflächen spreizt sich ein Gebiet, das von Angola im Norden bis Südafrika reicht. Eine Fläche, die zweieinhalb Mal so groß ist wie Deutschland, auf der allerdings nur 2,5 Millionen Menschen leben. Das Resultat solcher Mengen- und Größenverhältnisse: ein seltenes Gefühl für Raum und Zeit – die kleine Cessna fliegt über einen weitestgehend in Ruhe gelassenen Planeten.
Keine Wolke trübt den Himmel, als Oliver Braun nach einer Stunde den Motor drosselt und den Sinkflug einleitet. Aus einer Flughöhe von über 8000 Fuß steuert die Cessna auf eine Bergkette zu, die wie eine Ansammlung feiner Kegel aus einer Ebene ragt. „Dahinter kommt die Landepiste“, sagt Braun. „In fünf Minuten sind wir unten.“
Weit und breit kein Tower, kein Terminal. Der Flugplatz, der da unten in der glühenden Senke liegt, besteht lediglich aus einigen Schuppen und einer schmalen Landebahn. Ansonsten weht nur der Wind durch ein rostiges Gatter und laufen drei Antilopen gen Westen.
Noch eine Kurve, dann kommt die Piste in Sicht. Braun setzt seinen Flieger butterweich auf, rollt aus und kommt zum Stehen. Die Cessna schweigt. Ein Schwall heißer Luft streicht aus der Wüste durchs Flugzeug. Die Sonne steht senkrecht am Himmel. Braun sagt: „Willkommen in der Namib.“
Dass der deutsche Druckereimeister ausgerechnet hier gelandet ist, als Buschpilot im wilden Namibia, ist eine Geschichte für sich. Oliver Braun musste dafür nicht nur das Fliegen lernen, sondern auch eine Steilkurve im Leben meistern.
Abends im Camp sitzt er vor seinem Zelt, im Sand vor dem Feuerkorb. „Siehst du die Oryx-Antilopen da hinten?“, fragt er. „Sie sind viel zu dünn. Man kann ihre Rippen zählen. Sie wissen, dass ohne Regen und Nahrung harte Monate vor ihnen liegen. Sie gehen langsam.“
Oliver Braun, der sich früher mit Sonderprägungen und Typografien auskannte, weiß heute in anderen Dingen Bescheid. In all den Jahren ist Braun nicht nur zum Buschpiloten geworden, sondern auch zu einem fliegenden Namibia-Experten. Und dann erzählt er seine Geschichte. Vom hessischen Druckereifachmann zum afrikanischen Buschpiloten – nein, kein alltägliches Manöver.
Ein verwegener, ein verrückter Gedanke. Doch dann kam vieles zusammen. Und schließlich nahm sich Braun ein Herz – das eines Fliegers. Im Mai 2000 stellte Oliver Braun seine Aktentasche beiseite, verkaufte Hab und Gut in Deutschland und flog nach Südafrika. Am nächsten Tag begann die Ausbildung zum Piloten.
Er absolvierte einen Intensivkurs im Fliegen. Machte die PPL, die Private Pilot License, danach die CPL, die Commercial Pilot License. Anstatt Punkte an der Supermarktkasse zu sammeln, sammelte er fortan Flugstunden im Himmel. Starten, landen. Navigieren. Nachtflüge. Checklisten. Prozeduren.
Und ja, Kurven fliegen. Doch dann hatte er es geschafft. Braun war Pilot. Mit einem alten, gebrauchten VW Golf fuhr er quer durch das südliche Afrika, 3000 Kilometer bis nach Namibia. Denn dort suchte man damals dringend Piloten.
Der Rest ist Geschichte. Seine Geschichte. Er bewarb sich und flog bald über Afrika. Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat. Er flog in die Kalahari, landete in fernen Lodges. Er flog Kundschaft bis nach Angola und Botswana. Irgendwann kaufte er sich sein eigenes Flugzeug. Oscar Lima India. Inzwischen ist Braun seit 24 Jahren in Afrika und hat über 5800 Flugstunden gesammelt. Braun: „Die Entscheidung damals war die richtige. Ich habe mir eine neue Existenz aufgebaut. Und außerdem: Ich fliege für mein Leben gern!“
Und noch eines weiß er: Kein kleiner Apparat wird ihm diesen Job so schnell wieder wegnehmen. Computer haben keine Flügel.
Keine Minute später tut sich unter dem Flugzeug ein eigenes Reich auf. Ein Labyrinth aus Lee- und Sicheldünen, verweht zu sandigen Bögen, Halbmonden und Parabeln. Wie ein vom Wind komponiertes Relief liegt die Wüste im warmen Licht.
Braun fliegt eine Kurve. Oben im Himmel will man mit der Hand über diese Dünen streichen, sich darin verlieren. Die Augen surfen über das Sandmeer. Über unendlich weiche Linien und Formen, die man noch nie gesehen hat.
Braun kennt das alles schon. Aber auch er muss immer wieder staunen. „Das ist das Schöne am Fliegen in Afrika“, sagt er noch. „Die Natur ist überwältigend. Du fliegst über weites, leeres Land und bist jeden Tag aufs Neue sprachlos.“
Das Beste daran: Hier unten sind kaum Flugzeuge in der Luft. Wenn du eine Kurve fliegen willst, dann fliegst du sie einfach.